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Sculpture Box 2001

PHANTASTIC VEHICLES

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Text aus Booklet: Phantastische Fahrzeuge
Autor: Hans Werner Kettenbach, Köln

Hans Werner Kettenbach

DIE HOSEN DER FRAU VON BREDOW
oder: Meine liebste phantastische Reise

für Claudia Pütz zum Jubiläum von Pips-Dada 30. Oktober 2001

Man sollte meinen, daß der Mensch, je älter er wird, um so öfter und lieber sich auf eine phantastische Reise begibt, weil einerseits die Realität seines Daseins ihm zunehmend zum Halse heraushängt und andererseits er immer weniger Bock darauf hat, tatsächlich zu verreisen, ach was, überhaupt keinen Bock mehr, denn nach zwei oder drei Stun-den in einem Flugzeugsitz kommt man kaum noch auf die Füße, Auto ist auch nicht viel besser, Omnibus sowieso nicht, und wer weiß, ob das Bett im Hotel erträglich und das Essen genießbar ist, vom Service mal ganz abgesehen. Außerdem hat man ja eh schon alles gesehen, was es so gibt, die Eremitage und den Grand Canyon, die Wale vor Neuseeland und die Semper-Oper.

Bei mir ist das anders. Nicht, daß ich noch nicht alles gesehen hätte, was es so gibt, selbstverständlich habe ich das, und ich raffe mich auch immer seltener dazu auf, meinen Hintern hochzuheben und ihn in ferne Gegenden zu tragen. Aber ich suche für diesen Mangel an Mobilität keineswegs einen Ausgleich, indem ich mich öfter als früher auf eine phan-tastische Reise begäbe; vielleicht tue ich das sogar seltener. Und ich bin mir auch nicht sicher, ob irgendeine Reise dieser Art, die ich in der Zukunft noch antreten werde, mir lieber sein könnte, als das, was ich an solchen Reisen in früheren Jahren bereits erlebt habe. Die waren nun mal klasse, und es waren etliche davon, so viele jedenfalls, daß ich mich nicht entscheiden kann, welche mir die liebste ist.

Die erste wurde mir zuteil, als ich vier oder fünf war. Ich trat sie an in einer Jacke, die keine Knöpfe und keine Knopflöcher hatte, dafür aber aus einem gold-durchwirkten Stoff geschneidert war, es war ein Kleidungsstück ähnlich dem glitzernden Frack, den hernach der Entertainer Liberace gelegentlich zu tragen pflegte, aber ich saß damit nicht wie Liberace an einem Flügel, auf dem ein Armleuchter stand (obwohl schon einer davorsaß), sondern auf dem Kutschbock eines Schlittens, der von zwei Pferden gezogen wurde, und unter der Jacke trug ich ein weißes Hemd mit offenem Kragen, dazu auf dem Kopf und abermals anders als Liberace eine Art von Fez, auch dieser aus golddurchwirktem Stoff.

Die ungewöhnliche Bekleidung erklärt sich daraus, daß ich der Kutscher des Christ-kinds war, welches mit seinen Paketen hinter mir in dem Schlitten saß. Wie im einzelnen das Christkind aussah, weiß ich nicht, was erklärlich ist, da ich ja auf die Pferde vor mir achten mußte, aber ich glaube mich zu erinnern, daß es blaue Augen hatte und mit einem schlichten weißen Gewand bekleidet war, ein wenig Gold allenfalls auf dem Stirnband oder an der Gürtelschnalle, und die Pferde, das Gespann, das ich sehr geschickt lenkte, waren so weiß wie das Gewand, Schimmel nämlich, und sie trugen ein rotes Geschirr.

Wie oft ich diese Reise unternommen habe, weiß ich nicht, wahrscheinlich immer dann, wenn ich einen Kummer hatte und bis zum Abend keinen Trost fand und verzagt ins Bett kroch und mich der Wand zukehrte. Ich weiß auch nicht mehr, welche Reiseziele das Christkind mir auftrug und auf welchen Wegen wir die Pakete dorthin brachten, wahrscheinlich genügte es mir, für das Christkind zu arbeiten, egal, wo und wie, und wahrscheinlich deshalb fror es mich auch nicht in meinem offenen Hemd, was natürlich leicht hätte passieren können, dem Christkind übrigens auch in seinem weißen Gewand, da wir mit dem Schlitten ja nur dort herumfahren konnten, wo Schnee lag. Oder vielleicht doch auch anderswo?

Ich weiß es nicht. Irgendwann verlor ich diesen Job jedenfalls, vielleicht, als ich in die Schule und spätestens, sobald ich auf neue Gedanken gekommen war, die mir neue Reisewege eröffneten, Reisen, deren Ziele ich im Unterschied zu denen meines Paketdienstes in der Erinnerung behalten habe, was jedoch nicht heißt, daß ich sie hier auszuplaudern gedenke; es muß die Aussage genügen, daß solche Reisen mich unter die eine oder andere Bettdecke führten, so die eines Fräulein Bredow, das erheblich älter war als ich, aber im besten Weibesalter und voll im Fleische stand. Fräulein Bredow geriet mir, ebenso wie das Christ-kind, irgendwann wieder aus den Augen und aus dem Sinn, aber ich erinnerte mich an sie, als mir Willibald Alexis Roman "Die Hosen des Herrn von Bredow" unterkam; allerdings waren die dort behandelten Hosen ja aus Leder und konnten nur gewaschen werden, wenn ihr Träger seinen Rausch ausschlief, was eigentlich bedeutete, daß man bei diesen Hosen an alles mögliche denken konnte, nur nicht an mein Fräulein Bredow, das blond war und proper und überdies sehr appetitlich nach Veilchenseife roch.

Auf eine wieder andere Art von Reisen, die mutmaßlich letzte, die ich hier explizieren möchte, es könnte sonst ein wenig zu viel werden, auf die dritte Art von Reisen also kam ich durch die Lektüre der "Schatzinsel" oder den Erdkundeunterricht oder beides zusammen oder durch Adalbert von Chamisso, ich kann es leider nicht mehr herausfinden, aber ich erinnere mich zumindest noch immer an das Lied von der alten Waschfrau, das wir dem Dichter Chamisso verdanken:

Du siehst geschäftig bei dem Linnen
Die Alte dort in weißem Haar,
Die rüstigste der Wäscherinnen
Im sechsundsiebenzigsten Jahr.
So hat sie stets mit sauerm Schweiß
Ihr Brod in Ehr und Zucht gegessen,
Und ausgefüllt mit treuem Fleiß
Den Kreis, den Gott ihr zugemessen.
Von einem Mann, der so glasklar weibliche Tugenden und Verdienste darzulegen weiß, würde man nicht unbedingt die Anregung zu einer phantastischen Reise erwarten, auch wenn er den "Peter Schlemihl" geschrieben hat, aber ich fand dergleichen tatsächlich bei ihm. Ich hatte geglaubt, er sei ein braver Dichter gewesen, ein Stubenhocker, und so sieht er auch aus auf dem Bild, das von ihm überliefert ist, Pludermütze, buschige Koteletten, Hausrock und langstielige Pfeife. Aber der Kerl hatte nicht nur als Page der Frau des Preußenkönigs Friedrich Wilhelm II. gedient, was mich an meine Zeit beim Christkind und entfernt auch an die mit dem Fräulein Bredow erinnerte, er hatte es als gebürtiger Franzose bei den Preußen sogar zum Leutnant gebracht, alsdann nicht etwa Literatur, sondern Naturwissenschaften studiert und von 1815 bis 1818 an einer Forschungsreise rund um den Erdball teilgenommen, auf welcher er bei den Salpen, das ist eine Ordnung der Manteltiere, den sogenannten Generationswechsel entdeckt hat.

Die Details dieser wissenschaftlichen Tat habe ich bestenfalls soso lala verstanden, die Manteltiere schwimmen also im Wasser und sehen auf den Farbtafeln im Brockhaus ein wenig eklig aus, aber immerhin sind sie die ältesten Vorläufer der Wirbeltiere und damit auch des Menschen, und ihr Clou, ebendas, was Chamisso entschleiert hat, besteht darin, daß bei den Salpen jeweils auf eine Generation, die sich geschlechtlich fortpflanzt, eine nächste folgt, die das ungeschlechtlich besorgt, der Teufel weiß wie, aber die Himmelskönigin Maria hat das ja auch geschafft, und bei den Salpen nennt man es Ammenzeugung. Die Details haben mich ohnehin weniger interessiert als die Umstände der Entdeckung, und ebendazu gehörten ein Segelschiff und die Südsee, Korallenriffe, die Hawaii- und die Marshall-Inseln, denn dort überall hat Chamisso sich umgetan. Und damit war mir Tür und Tor geöffnet für eine Reise der allerersten Klasse.

Wahrscheinlich hatte ich zu dieser Zeit schon etliche solcher Reisen absolviert, mit Jim Hawkins und Long John Silver zur Schatzinsel, mit Kapitän Cook nach Tahiti, auch mit Marco Polo querbeet durch Asien nach Kambaluk. Aber Adalbert von Chamisso erwies sich als besonders ergiebig, weil er mich vom Hölzchen aufs Stöckchen brachte und in Verwicklungen, von denen ich mir nichts hatte träumen lassen. Die Sache begann damit, daß es ein russisches Schiff war, auf dem er reiste, was zunächst einmal die Frage aufwarf, ob es unterwegs des öfteren Borschtsch zu essen gab, das hätte mir nämlich gar nicht behagt, weil ich keine roten Rüben mag, aber dann fand ich heraus, daß der Chef der Expedition ein Deutscher war, ein Herr von Kotzebue, also werden sie zumindest auch Sauerkraut mitgeführt haben, zudem Zimtsterne für das Weihnachtsfest, wie ich vermutete.

Ob man auch auf diesem Schiff den leckeren Dunst riechen konnte, wenn Sauerkraut gekocht wird? Oder ob der Seewind den Geruch vertrieb? Und ob Zimtsterne so wie der Schiffszwieback, von dem das ja bekannt ist, auf See von Maden befallen werden, so daß man die Sterne vor dem Verzehr auf die Tischkante klopfen muß, damit die Maden herausschauen und sich pflücken lassen?

Solange ich nicht wußte, wie der Kotzebue mit Vornamen hieß, beschäftigte mich auch die Frage, ob es sich bei ihm etwa um den Dichter August von Kotzebue gehandelt hatte, der das Boulevard-Theater der Goethe-Zeit mit Stücken eingedeckt, sich aber durch boshafte und freiheitsfeindliche Artikel weithin so unbeliebt gemacht hat, daß der Student Karl Ludwig Sand ihn an einem Frühlingstag des Jahres 1819 erdolchte. Ich glaubte mich an eine zeitgenössische Darstellung zu erinnern, in der Sand, auf einer Zehenspitze stehend, als sei er soeben herangesprungen, dem Dichter das Stilett in den Leib stößt, und bei der Gelegenheit erschien mir dann auch die Kaiserin Elisabeth wieder, genannt Sissi, wie sie in Genf über die Uferpromenade wandelt, als dieser finstere Italiener sich von der Seite nähert und sein Messer in ihrer Brust versenkt; im Hotel Beau Rivage habe ich vor zwanzig oder dreißig Jahren noch das Zimmer besichtigen dürfen, in dem Sissi gewohnt, und im Alkoven die hohe Wanne, in der sie gebadet hat und das Bett, in dem sie gestorben ist, es war alles genau so erhalten, wie es 1898 ausgesehen hat.
Mit den Russen hatte Kotzebue, um in etwa zum Thema zurückzukehren, immerhin einiges zu tun gehabt, er war als Sekretär eines russischen Generals nach St. Petersburg gegangen, von heute auf morgen nach Sibirien verschickt, doch bald begnadigt, zum Direktor des deutschen Hofschauspiels in Petersburg und zum russischen Staatsrat ernannt worden und am Ende nach Deutschland zurückgekehrt. Der Mann war mir nicht sonderlich sympathisch, aber er brachte mich weiß Gott auf Trab, ich wanderte mit ihm durch eine faszinierende Szenerie nach der anderen, über eisige, zugige Steppen, durch verschneite Wälder, Zimmer hinter damastenen Gardinen, in denen das Kaminfeuer knisterte, heiße Sommer und helle Nächte an den Ufern der Newa, bevor ich herausfand, daß Chamissos Chef auf der Forschungsreise nicht August, sondern Otto von Kotzebue gewesen ist, der Sohn des Dichters.

Ich könnte hier noch anfügen, daß Otto, wie sich bei näherer Betrachtung seines Lebenslaufs ergab, bereits zuvor die Welt umsegelt hatte, als Adjunkt eines Esten in russischen Diensten, des Admirals Adam Johann von Krusenstern, nach dem die Krusenstern-Straße (auch Tsushima-Straße) zwischen Japan und Korea benannt worden ist, ähnlich wie nach dem Dichtersohn Otto der Kotzebue-Sund an der Küste von Alaska, und es ergab sich zudem, wann und wie und warum dieses Unternehmen stattfand. Aber ich will´s nicht übertreiben. Jeder halbwegs verständige Mensch wird hier auch ohne das schon ermessen können, welch atemberaubende Reise ich Adalbert von Chamisso verdanke, vom Christkind und dem Fräulein Bredow ganz abgesehen, und warum ich es eher bezweifle, daß ich Vergleichbares je wiedererleben werde. So ist es nun mal. Schade.

P.S.: Am Wochenende habe ich in der "Süddeutschen Zeitung" gelesen, daß es zu Oscar Wildes Zeiten und in seinen Kreisen Leute gab, die sich die Haare grün färben ließen und mit einem Hummer an der Leine in den Parks spazierengingen. Das muß ein interessantes Pflaster gewesen sein, London am Ende des 19. Jahrhunderts.

P.S.II: In London übrigens ist ein paar Jahre zuvor auch Jenny Lind aufgetreten, die "Schwedische Nachtigall", die dann von Phineas T. Barnum nach Amerika geholt wurde, wo eines ihrer Konzerte nach dem anderen ausverkauft war, was sicher nicht zuletzt an Barnums Verkaufstalent lag, er führte dem Publikum mit großem Erfolg auch Elefanten und Liliputaner und eine Negerin vor, die angeblich 180 Jahre alt war, und was seinen Vornamen betrifft, so habe ich eine Zeitlang irrtümlich vermutet, der gehe auf den König Phineus zurück, der seine Söhne hatte blenden lassen und dem die Götter zur Strafe die Harpyien auf den Hals schickten, ein widerliches Gezücht von Vögeln, die sich, wann immer Phineus am Tische Platz nahm, um Hunger und Durst zu stillen, mit wüstem Geflatter aus den Wolken herabstürzten, nach den besten Brocken schnappten, sie hinunterschlangen und auf die Reste ebenso wie in den Krug und den Becher des Delinquenten ihren Unflat fallen ließen, will heißen, daß sie den ganzen Tisch und wahrscheinlich auch noch das Haupt samt den Schultern des Phineus vollschissen, bevor sie mit triumphierendem Krächzen sich wieder davonhoben.

Von Phineus weiß ich einiges. Aber was war mit Barnum und Jenny Lind? Wie mögen sie miteinander umgegangen sein, die Konzertsängerin und der Schausteller?



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